Interview ROMEO UND JULIA
»Stärke und Schönheit im Dunkeln und Hässlichen«
Interview mit Erna Ómarsdóttir und Halla Ólafsdóttir
von Christina Güllich
Erna, in der Presse hat man dich einmal als »Monster, Fee, Engel und Teufel: eine Naturgewalt« beschrieben. Warum?
ERNA: Warum ...? Ach, es ist schwer, das über sich selbst zu sagen. Ich denke, es hat mit der Mischung von etwas sehr Weichem und Süßem einerseits und etwas Dämonischem oder Monströsem andererseits zu tun. Es ist der Kontrast, der mich fasziniert. Und ich benutze oftmals Schreie als ein künstlerisches Ausdrucksmittel auf der Bühne. Dies ist übrigens auch privat eines meiner liebsten Hobbys: Schreien und dabei im Rhythmus mit dem Kopf wippen. (lacht)
HALLA: Vielleicht auch deshalb, weil du oft auf klassische, so genannte »männliche Stereotype« anspielst: laut zu sein, zu dick aufzutragen – etwa, wenn du Referenzen an Black Metal-Musik verwendest. Ich denke, eine kleine Frau zu sehen, die das tut, verdreht in vielen Köpfen die Vorstellung von Weiblichkeit. Es hat auch mit sehr vorgefassten Auffassungen zu tun, wie Tanz auszusehen hat: Was dürfen wir Tanz nennen? Gemeinsam arbeiten wir viel daran, diese Grenze zu überschreiten.
ERNA: Ja, es ist auch ein bisschen Rebellion gegen das Bild, wie ein Tänzer auf der Bühne aussehen soll. Zum Beispiel sagte meine Mutter einmal zu mir, dass ich nicht singen sollte, da ich so schief sang. Aber meine Reaktion war: Ich liebe es zu singen! Ich möchte singen! Und ich werde meinen eigenen Weg finden! Und ich fing an, die Stimme beim Tanzen zu benutzen. Ich arbeite gerne mit der Stimme wie auch mit der Bewegung des Körpers – mit der Textur und der Emotion der Stimme. So verschmilzt die gesamte Körperlichkeit mit all ihren verschiedenen Qualitäten zum Tanz. Und Halla und ich sind da ziemlich auf derselben Wellenlänge.
Bei diesen recht brutalen Aspekten eurer Arbeit – dem Schreien, dem scheinbar Hässlichen und Harten – geht es also nicht darum, beim Publikum unangenehme Gefühle auszulösen? Weder beim Tänzer noch beim Publikum?
ERNA: Nein. Es hat oft sogar eine heilende, reinigende Wirkung. Ich kann dies bei Tänzerinnen und Tänzern beobachten, die nicht daran gewöhnt sind, mit dem Atem und Schreien zu arbeiten – sie bekommen fast einen Rausch davon. Dies kann allerdings manchmal das Gegenteil von dem sein, was das Publikum dabei empfindet. Dieses empfindet zum Beispiel gerade das Schreien nicht selten als etwas Abstoßendes; ich hingegen sehe darin eher eine Stärke und Schönheit im Dunkeln und Hässlichen. Denn was für die westliche Gesellschaft als Schön gilt, finde ich oft nicht so interessant. Es gibt viele verschiedene Facetten von Schönheit.
HALLA: Wahrscheinlich ist es halb-halb: Oft sagt ein Teil des Publikums: »Oh, ich wünschte, ich könnte mit ihnen schreien«, manche hingegen sehen dies als etwas Schlechtes an. Aber es entstammt keinesfalls von einem schlechten Ort oder aus einer bösen Absicht. Es geht uns eher darum, zu heilen und Dinge herauszubringen, die wir ansonsten in unserem Leben eher unterdrückt halten. Und wenn wir manchmal Klischees verwenden, von denen wir alle wissen, dass sie in unserer Gesellschaft existieren, so wollen wir diese Klischees dadurch nicht etwa bestätigen. Wir verwenden sie, um eine neue Lesart aufzuzeigen, indem wir sie den Vorstellungen des Publikums entgegenstellen.
Musik, Theater, Tanz: Was verleiht gerade dem Tanz seine Einzigartigkeit?
HALLA: Mit dem Tanz kannst du ausdrücken, was du nicht in Worte fassen kannst. Man kann aus abstrakten Ideen oder Emotionen ein Bild zusammenstellen. Im Theater arbeitet man ja ansonsten viel mit Text. Man erzählt eine Handlung, eine Geschichte. Aber nur der Tanz kann mehrere Erzählschichten gleichzeitig bedienen. Und es geht darum, Menschen zu bewegen, eine Sehnsucht nach Bewegung zu erschaffen – im Sinne einer Bewegung von Körperteilen, aber auch Bewegung im Raum oder Bewegung als eine soziale Dynamik. Und schließlich gibt einem der Tanz ganz einfach eine Menge Freude, wenn man sich dafür entscheidet, sich ganz auf den Moment einzulassen.
ERNA: Einige Sänger und Musiker sind auch großartige Tänzer und Performer. Aber wenn ich mir ein Theaterstück oder ein Konzert anschaue, denke ich oft: »Warum machen die nichts mit ihrem Körper? «. Es ist schon etwas ganz Besonderes, nichts anderes als den eigenen Körper verwenden zu können. Er ist das ursprünglichste Instrument, man braucht nichts anderes.
HALLA: Es erfordert jedoch zugleich viel Können und ein besonderes Wissen der Tänzer um ihren eigenen Körper: Körperlichkeit, Technik, Interpretation und Emotion. Und es ist auch eine kollektive Arbeit: Sie arbeiten in großen Gruppen und sind geübt darin, Verantwortung für ihren eigenen Körper und für andere in der Gruppe zu übernehmen.
Was ist für euch an eurer Neuinterpretation von »Romeo und Julia« besonders wichtig?
HALLA: Eine wichtige Frage für uns war: Warum wiederholen wir die Geschichte? Warum sollten wir wieder »Romeo und Julia« erzählen? Die Antwort darauf hat auch einen politischen Aspekt: Sehr oft ist der so genannte »Schöpfer« einer Produktion ein Genie – und er ist oft ein Mann. Shakespeare war ein Mann und Prokofjew war ein Mann. Und beide werden von der Gesellschaft als Genies betrachtet. Nun haben wir es mit einem Mal mit zwei Frauen zu tun. Es geht also nicht um ein berühmtes Genie, sondern um Kollektivität und Zusammenarbeit. Dann gibt es da noch dieses kollektive Wissen, das sich bei den Aufführungen mit im Raum befindet: Die Leute kennen normalerweise das Theaterstück, manche kennen sogar die Musik Prokofjews sehr gut. Wir müssen nicht wiederholen, was das Publikum bereits im Vorfeld glaubt, mit Sicherheit erwarten zu können, aber wir können es verwenden, um über bestimmte Themen und Aspekte nachzudenken, die an der Geschichte interessant sind.
ERNA: Am Anfang war uns wichtig, dass Prokofjew ursprünglich ein anderes Ende geschrieben hatte – ein glückliches Ende. Diese Tatsache, dass er beschlossen hat, die Geschichte zu ändern, war für mich ein gewisser Schlüssel: Auch wir können die Geschichte ändern. Wir können Details ausschneiden, auswählen und uns auf einzelne Aspekte konzentrieren, wir können uns fragen, warum sich ein Charakter auf eine bestimmte Weise verhält – und wir können uns von dieser Freiheit anleiten lassen. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt in diesem Prozess ist die Geschichte der Geschichte selbst: Wir hören sehr gerne unterschiedlichen Interpretationen zu, wie die Geschichte seit ihrer ersten Veröffentlichung verändert und interpretiert wurde. Und was wir finden, ist: Ursprünglich war diese viel rauer, erotischer, sexueller und brutaler. Zum Beispiel hatte Julia viel mehr Text, der sexuell aufgeladen war. Text, der später gestrichen wurde. Die Geschichte wurde stark modifiziert, um eine romantischere Vorstellung von Liebe darzustellen, die mehr den bürgerlichen Moral- und Sittlichkeitsvorstellungen entsprach, als den Fantasien eines pubertierenden, frisch verliebten jungen Mädchens.
Wie geht ihr vor, wenn ihr eine Choreografie entwickelt? Nehmt ihr euch zuerst die Geschichte vor? Oder die Musik? Oder etwas anderes ...?
ERNA: Normalerweise arbeiten wir mehr mit Themen, Emotionen und Energie als mit bereits existierenden Geschichten. Oft arbeiten wir mit Musikern zusammen, die die Musik parallel zu unserer Arbeit kreieren, inspiriert von den Tänzerinnen und Tänzern – und umgekehrt. In diesem Fall ist es anders: Es gibt eine Geschichte und die Musik ist auch bereits vorhanden. Und dies ist zweierlei zugleich: Befreiung und Begrenzung. Es gibt auch bereits Material aus der Vergangenheit, das wir hier wieder einbringen und umbenennen, indem wir es in einen neuen Kontext stellen. Wir arbeiten viel mit solchen unterschiedlichen Schichten.
HALLA: Was die Musik betrifft, fragen wir uns gerne: Was erwartet man, wenn man diese Musik hört? Dann gehen wir manchmal mit dieser Erwartungshaltung und manchmal dagegen. Wir arbeiten sehr assoziativ. Eben dies ist die Freiheit, wenn man mit Tanz arbeitet: Man muss nicht das gesprochene Wort verwenden. Shakespeare hat da einen großartigen Job gemacht; es ist alles da, die Leute können es sehen und es lesen. Wir müssen diese Geschichte nicht noch einmal wiederholen. Wir beschäftigen uns mehr mit den Themen, um viele Geschichten gleichzeitig zu erzählen, die ihrerseits wiederum auf vielfältige Weise interpretiert werden können, anstatt nur eine Erzählung zu bieten, einen einzigen Handlungsstrang zu erzählen.
Welche Themen oder Aspekte von »Romeo und Julia« sind für euch am wichtigsten?
ERNA: Der wichtigste Aspekt für uns ist die Darstellung des Frauenbildes. Wie Frauen sein sollen – Kinder kriegen, den Haushalt führen, hübsch sein und so weiter. Und natürlich funktioniert das in beide Richtungen, auch für Männer. Patriarchat ist für niemanden gut. Es hält Männer genauso klein wie Frauen. Oder besser gesagt: Es hält alle Menschen in bestimmten Rollenbildern fest, wovon wir uns gerne lösen möchten. Wir versuchen dies zu erreichen, indem wir die Rollen ständig verschieben. Man kann jetzt Romeo sein, dann gibt es zwei Romeos, dann kann eine ganze Gruppe die Amme sein.
HALLA: In diesem Zusammenhang betrachten wir auch Archetypen des Auftretens von Frauen in der Gesellschaft. Wenn man eine Ballerina sieht, scheint es, als würde sie nicht einmal schwitzen. Sie ist fast ein perfektes Model. Die Schwerkraft scheint keinen Einfluss auf ihre Knochen zu haben. Aber all die harte Arbeit, all die Schmerzen, all diese körperlichen und psychischen Misshandlungen, die diese Person durchmachen musste, kann sich niemand vorstellen. Und im 19. Jahrhundert mussten Balletttänzer nach den Aufführungen sogar oft als Prostituierte arbeiten. Wir wollen mit diesen verborgenen Aspekten umgehen. Also arbeiten wir mit diesen großen schweren Körpern, die laut sind, die schreien, die nicht nur leicht und hübsch sind.
ERNA: Ein weiterer Aspekt ist die Freiheit der Liebe. Julia will sich nicht nach Paris verheiraten lassen und geht stattdessen mit Romeo. Auf der Bühne stehen meistens ein Mann und eine Frau, die die Liebe repräsentieren. Aber natürlich gibt es auch eine Liebe zwischen zwei Männern, zwischen zwei Frauen, oder etwa einer Person und dem Himmel. Liebe kann sich auf so viele Arten ausdrücken. In unserer Gesellschaft, in der Homophobie wieder auf dem Vormarsch ist und Liebe als Marketing-Instrument missbraucht wird, erscheint es uns wichtig, dies zu thematisieren.
HALLA: Interessant für uns ist auch die Idee, dass es sich um eine Geschichte über Rebellion handelt. Es gibt diese aristokratischen Strukturen, diese beiden Häuser, diese reichen Familien, und wir haben diese beiden Leute, die dagegen rebellieren. Sie tun das Schlimmste, was man sich vorstellen kann: Sie knüpfen eine Verbindung zwischen diesen beiden Parteien. Wir sind sehr an dieser Rebellion gegen überholte Institutionen interessiert, die die Gesellschaft bestimmen. Und dann haben wir da noch das Thema Tod. Tod nicht nur als Tragödie, sondern auch als Wiedergeburt von etwas Neuem. In diesem Stück ist der Tod von Romeo und Julia der Grund für die Familien, miteinander Frieden zu schließen.
ERNA: Wenn wir bestimmte Themen auswählen, geht es mehr darum, ein Gefühl zu erzeugen, als eine bestimmte Handlung darzustellen. Wo ein Publikum denkt: »Warum putzen sie den Boden?« oder »Warum ringen sie?«, verhandeln wir in Wahrheit Gefühle auf metaphorischer Ebene. Auch in Sunnevas Kostümen, Chrisanders Bühnenbild und Valdimars Videoarbeit setzen wir unsere Beschäftigung mit diesen unterschiedlichen Themen fort.
Wie setzt ihr Requisiten in eurer Produktion ein?
ERNA: Wir verwenden zum Beispiel abgeschnittene Hände wie in einem Horrorfilm. Diese Verbindung zwischen Horror und Blutspritzern hat einen etwas gruseligen und brutalen Aspekt, aber sie besitzt auch ein Slapstick-Element. Denn auf einmal werden die Hände plötzlich sehr zart und fürsorglich eingesetzt; sie wirken dabei eher wie Wurzeln oder man sieht sie sogar als Blumen an.
HALLA: Es gibt viele Formwechsel; viele Assoziationen sind möglich. Wir verwenden Requisiten oder Materialien, die man zunächst als eine bestimmte Sache erlebt. Aber dann kommen diese später als etwas anderes mit einer anderen Bedeutung wieder zurück.
Arbeitet ihr anders mit männlichen und weiblichen Tänzern, zum Beispiel in Bezug auf deren Körpersprache?
ERNA: Nein, wir versuchen es zumindest nicht. Das ist unsere Politik in diesem Stück. Alle diese zwanzig Tänzerinnen und Tänzer, die wir haben, könnten nur Frauen sein, sie könnten aber auch alle nur Männer sein. Wir ordnen die Rollen eher den Menschen als dem Geschlecht zu.
HALLA: Es ist so leicht, in Muster zu verfallen. Wir versuchen allerdings, Geschlechterstereotype zu vermeiden. Wenn wir Klischees verwenden, stellen wir diese deutlich in den Vordergrund, um sie als augenzwinkerndes Spiel mit den Klischees erkennbar zu machen – so etwa zu erkennen in den ausgestellten Muskeln in den Kostümen. Ansonsten versuchen wir, Klischees zu brechen, indem wir beispielsweise Frauen Männer, Männer Frauen, Frauen Frauen und Männer Männer heben lassen.
Was ist für euch die größte Herausforderung an eurer eigenen Arbeit?
ERNA: Wir entwickeln derzeit die Tanzperformance in enger Zusammenarbeit mit den Tänzern. Manchmal müssen wir viele Kreise gehen, bevor wir zu dem gelangen, was wir eigentlich erreichen wollen. Hierbei wandeln wir viel auf unbetretenen Pfaden. Das kann manchmal frustrierend sein – für uns wie auch für die Tänzer. Dies ist wohl die größte Herausforderung für alle, aber hierdurch treibt es dich und die Tänzer auch dazu an, alles zu geben und die eigene Arbeit mit dem ganzen Herzen zu leben.
HALLA: Und Shakespeare, Prokofjew – es gibt so viele Erwartungen... Auch wenn man sich selbst immer wieder sagt: »Wir werden versuchen, alle Erwartungen zu hinterfragen!«– am Ende des Tages schwingt das Erbe der Werkgeschichte immer noch über einem und es ist schwer, diesen Druck nicht zu spüren.
Das klingt nach viel »Trial and Error«. Wann wisst ihr, dass ein Stück fertig ist?
ERNA: Manchmal wissen wir es bis zur letzten Minute nicht. (lacht) Manche Dinge sind ziemlich früh klar, andere brauchen etwas mehr Zeit. Am Ende wird es hoffentlich zu dem, was es werden sollte und auch muss, um ein funktionierendes Eigenleben zu besitzen.
HALLA: Hoffentlich schaffen wir ein Monster (lacht). Ein wunderschönes Monster.
Mit welcher Art von Vorwissen oder mit welcher Einstellung sollte sich jemand das Stück ansehen?
ERNA: Ich denke, es ist in Ordnung, nicht so viel im Vorfeld zu wissen; das könnte einen von falschen den Erwartungen befreien. Aber für diejenigen, die das Stück kennen und eine bestimmte Geschichte erwarten: Begegnen Sie ihm aufgeschlossen.
HALLA: Man sollte sich vielleicht ein Stück weit selbst hinterfragen: Was sind meine Erwartungen und warum habe ich diese? In Bezug auf die Geschichte, in Bezug auf den Tanz, in Bezug auf das Theater als Ort und Institution.
Gibt es etwas besonders Isländisches an eurer Art zu arbeiten oder an euren Kreationen?
ERNA: Dort wo wir aufgewachsen sind hat die Natur einen großen Einfluss auf die Menschen. Diese Erfahrung war und ist für uns beide sehr prägend und sicherlich auch in unseren Werken spürbar. Aber wenn die Natur sehr stark ist, kostet dies zugleich viel Energie. Sie ist so viel größer als man selbst. Im täglichen Leben ist die Natur in Island ein ständiger Begleiter. Wir haben beide viel Energie – vielleicht besteht hierin eine gewisse Verbindung zu unserer Herkunft.
HALLA: Und die Tradition des Geschichtenerzählens ist tief in der isländischen Kultur verwurzelt. Am Esstisch werden immer Geschichten erzählt. Geschichten, die von Mund zu Mund weiterreisen, sich entwickeln, verändern und ihr eigenes Leben entwickeln.
ERNA: Vielleicht hat unser Interesse daran, wie sich »Romeo und Julia« im Laufe der Zeit verändert hat und die Arbeit mit eben diesem Aspekt etwas mit unserer Kultur zu tun. Und dann ist der Tanz natürlich auch etwas, das in unserer Tradition nicht so verankert ist wie in anderen Ländern. Vielleicht, weil es in Island keine wirkliche Tanztradition gibt, erlauben wir uns mehr Freiheiten.